Endlich Statistin

Foto: Fritz Beck

Seit ihrer Kindheit träumt Sabine Heißner davon, auf einer großen Bühne zu spielen. Es dauert 76 Jahre, bis sie sich traut.

Eine Stunde, bevor sich Sabine Heißner einen Lebenstraum erfüllen wird, sitzt sie im Foyer des Münchner Volkstheaters und wartet. Der Parkettboden glänzt im Licht der Deckenlampen. Dort, wo bald die ersten Gäste stehen werden. Die Premiere ist ausverkauft, alle 200 Plätze. Sabine Heißner trägt ihr Bühnenoutfit: schwarze Stiefel, karierte Hose, die grauen Haare nach hinten gesteckt. Abrupt steht sie auf. „Ich gehe jetzt rein“, sagt sie und verschwindet in die Backstage.

Seit ihrer Kindheit träumt Heißner davon, auf der Bühne zu stehen. Es gibt Bilder aus ihrer Kindheit, ein Auftritt mit dem Schulchor, Heißner in der ersten Reihe. Sie wollte immer ganz nach vorne und sehen, wer im Publikum sitzt. Aber es blieb bei ein paar Schülerauftritten. Niemals hätte ihre Familie eine Theaterkarriere erlaubt. Etwas einfach für sich tun, egal, was die anderen sagen, das war für Sabine Heißner nicht drin, wie für so viele Frauen ihrer Generation. Heißner ist heute 76 Jahre alt.

Sechs Tage vor der Premiere sitzt Heißner auf der Couch ihrer Münchner Einzimmerwohnung und serviert Lupinenkaffee. Auf dem Heizkörper neben dem Bett stapeln sich Bücher, an der Wand hängen aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Bilder, in der Ecke eine indische Gottheit. Heißner trägt Rollkragenpulli und Faltenrock, die krausen Haare fallen ihr über die Ohren. Alles an Sabine Heißner wirkt jünger, als sie ist. Ihre Stimme, ihr Gesicht. Heißner klingt wach und lebendig, euphorisch, wenn sie von den Theaterproben erzählt, dass sie seit zwei Wochen dabei sei, dass sie sich noch immer jedes Mal freue, hingehen zu dürfen. Jeden Tag schicke sie ihrem Sohn ein Foto aus der Maske. Heißner holt ihr Handy hervor und zeigt ein Selfie: sie in ihrem Kostüm mit der karierten Hose und den schwarzen Stiefeln vor einem Spiegel, ihr Blick konzentriert. Auf ihrer Handyhülle steht in geschwungener Schrift: „Dream a little bigger, darling.“

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